Ich seh die Knoten vor lauter Kanten nicht...oder: Sind lokale Netzwerke noch darstellbar?

03. Juli 2015 / Moritz von Gliszczynski

Im Projekt gelingende Kooperationen ist die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Einrichtungen, Institutionen und engagierten Einzelpersonen (im Folgenden als „Akteure“ bezeichnet) in benachteiligten Quartieren Thema. Kooperation und Zusammenarbeit sind aber erst einmal keine wissenschaftlich fest definierten Begriffe. Wie lassen sich die Beziehungen zwischen diesen Akteuren dann aber wissenschaftlich fassen?

Um Beziehungsgeflechte in Gruppen von Akteuren zu beschreiben hat sich in den Sozialwissenschaften in der jüngeren Vergangenheit „Netzwerk“ als Begriff durchgesetzt. Es gibt unterschiedliche Definitionen dessen was unter einem „Netzwerk“ zu verstehen ist, gängig ist aber es als einen Satz von sozialen Akteuren und den Beziehungen zwischen diesen Akteuren zu verstehen, wobei die Akteure gerne bildlich als „Knoten“ und die Beziehungen als „Kanten“ bezeichnet werden.

Da man mit „Knoten“ und „Kanten“ alle in der Gesellschaft aufzufindenden Arten von sozialen Akteuren und Beziehungen bezeichnen kann, eignet sich der Begriff „Netzwerk“ auch für die Untersuchung von Kooperationsstrukturen in benachteiligten Quartieren. Zudem ist eine eigene sozialwissenschaftliche Netzwerkforschung entstanden, die viele hilfreiche Methoden zur Beschreibung und Analyse von Netzwerken bereit hält.

Neben statistischen Methoden, die es erlauben, einfache Aussagen über die Bedeutung einzelner Akteure in Netzwerken und die Existenz von besonders eng vernetzten Cliquen zu treffen, hat es sich – gestützt durch Software – auch durchgesetzt, Netzwerke visuell als Geflechte aus Knoten und Kanten darzustellen. Wie im folgenden Beispiel zu sehen ist, können mit einer solchen Visualisierung im Idealfall schnell die ersten Schlüsse zu Beziehungsstrukturen geschlossen werden.

 

Bei diesem zufällig mit dem auf Netzwerkanalyse spezialisierten Programm Pajek erzeugten Netzwerk fällt beispielsweise auf das der Knoten „v6“ sehr isoliert ist, während „v8“ bis „v12“ am rechten Rand eine intern gut vernetzte Clique bilden.

Inwiefern sich solche Methoden der Visualisierung für bestimmte Forschungsfelder eignen, muss sich aber immer erst in der Praxis erweisen. Der Versuch, die lokalen Netzwerke in benachteiligten Quartieren in der gezeigten Art und Weise darzustellen stößt tatsächlich schnell an seine Grenzen. Eine erste Beobachtung in verschiedenen Quartieren in Niedersachsen ist, dass zum einen eine kaum zu überschauende Anzahl von Akteuren vor Ort aktiv ist und zum anderen, dass streng genommen fast alle Akteure untereinander vernetzt sind. Eine Visualisierung wie im obigen Beispiel führt dann zur folgenden Darstellung:

 

 

Sinnvoll interpretieren lässt sich ein solches Ergebnis, in dem die „Knoten“ zwischen den „Kanten“ schon fast verschwinden, kaum noch.

Über welche Alternativen verfügt man dann in der Forschung aber, wenn man Netzwerke und Kooperationsstrukturen analysieren möchte? Wie erwähnt gibt es einige einfache statistische Maße wie „Zentralität“, die im Allgemeinen als Hinweis auf die Bedeutung einzelner Akteure in Netzwerken gedeutet werden (bspw. im Sinne von hohe Zentralität gleich hoher Einfluss). Spezialisierte Software wie Pajek ist auch in der Lage, zu berechnen, ob in einem gegebenen Netzwerk besonders eng vernetzte Teilnetzwerke (also „Cliquen“ oder „Cluster“) existieren.

Diese Ergebnisse haben aber nur einen begrenzten Nutzen für eine vertiefte Untersuchung von Kooperationsstrukturen auf Quartiers-Ebene. Statistische Ergebnisse zu Zentralität und Cliquen können zwar nahe legen wie auf den ersten Blick unübersichtliche Netzwerke wie das oben dargestellte zu deuten sind, indem die darauf verweisen, welche Akteure in welchem Ausmaß Beziehungen im Netzwerk unterhalten. Statistische Maße sagen aber nichts darüber aus, welchen Inhalt Beziehungen haben, wie sie von den Beziehungspartnern wahrgenommen werden und was diese Partner tun um Beziehungen aufzubauen und zu erhalten. All dies sind aber Fragen, die beantwortet werden sollten, um besser zu verstehen, wie Kooperation auf Quartiers-Ebene tatsächlich funktioniert.

Trotzdem können statistische Ergebnisse aus der Netzwerkanalyse ein erster Schritt sein, um Kooperationsstrukturen mit anderen Methoden näher zu untersuchen. Das Wissen um die wahrscheinlich hohe Zentralität bestimmter Akteure im Netzwerk sowie um mutmaßlich existierende Cliquen kann genutzt werden, um Ansatzpunkte für die Verwendung qualitativer Methoden (z.B. Interviews, Gruppendiskussionen und teilnehmende Beobachtung) zu finden. Zu Beginn der Forschung vor allem die Akteure zu interviewen, die aus statistischer Perspektive eine hohe Bedeutung haben, heißt, eine begründete Auswahl an Interviewpartnern zu treffen, die einen besonders guten Einblick in lokale Strukturen haben. Die Kontrastierung qualitativer Ergebnisse mit statistischen Maßen und Visualisierungen kann zudem zu neuen Erkenntnissen führen, falls Ergebnisse der Interviews und abgebildete Strukturen offensichtliche Unterschiede zeigen.

 

Mit dem Einsatz qualitativer Methoden können also die Grenzen der oben dargestellten Methoden der statistischen Analyse und Visualisierung von Netzwerken in gewissem Maße überschritten werden. Dennoch ist das natürlich keine perfekte Lösung. Zum einen gibt es bisher noch keine qualitativen Methoden, die auf die Analyse von Netzwerken spezialisiert sind. Es muss also eine Anpassung allgemein gängiger Methoden erfolgen, die Gefahr läuft, blinde Flecken zu hinterlassen. Dies lässt sich nur durch methodische Gewissenhaftigkeit und konstantes kritisches Überprüfen der eigenen Arbeit bewältigen. Zum anderen ist mit der Verwendung qualitativer Methoden auch die im Titel angerissene Frage nicht geklärt, ob komplexe lokale Netzwerke überhaupt noch darstellbar sind. Das Gewirr aus Knoten und Kanten lässt sich durch qualitative Methoden sicher besser verstehen, weil sich klären lässt, welche konkreten Handlungsstrategien, Deutungsmuster und sozialen Strukturen eigentlich hinter den vielen Linien und geometrischen Formen steckt. Eine besser interpretierbare Form der Visualisierung, die ohne solche Hilfsmittel auskommt, ist damit aber nicht erreicht.

Ob eine solche Form der Visualisierung angesichts der Vielfältigkeit lokaler Strukturen in benachteiligten Quartieren überhaupt möglich ist, kann hier nicht geklärt werden. Das Gewirr aus Knoten und Kanten durch die Hinzunahme qualitativer Methoden wenigstens etwas zu lichten scheint aber ein Schritt in die richtige Richtung.